Bertelsmann AG (Hrsg.): 175 Jahre Bertelsmann - Eine Zukunftsgeschichte

Cover
Titel
175 Jahre Bertelsmann. Eine Zukunftsgeschichte


Herausgeber
Bertelsmann AG
Erschienen
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Triebel, BMW Group Classic, München

Von einem Etikettenschwindel ist dann die Rede, wenn der Inhalt eines Produkts nicht mit der auf seiner Verpackung angegebenen Beschreibung übereinstimmt. "175 Jahre Bertelsmann. Eine Zukunftsgeschichte" preist das Haus Bertelsmann seine Festschrift zum Jubiläum an. Dem Titel nach und der Tradition der Festschrift gemäß, vermutet der Leser eine Gesamtschau über das 1835 von Carl Bertelsmann in Gütersloh gegründete Unternehmen. Doch bereits der erste Blick in das Inhaltsverzeichnis lehrt, dass die dort angezeigten Beiträge sich bis auf eine Ausnahme ausschließlich mit der Geschichte des Hauses Bertelsmann in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen, oder, um es zu präzisieren: mit den Geschicken des Unternehmens unter der Ägide Reinhard Mohns, der nach Krieg und Gefangenschaft 1946 in den Familienbetrieb eintrat und ihn bis zu seinem Tod im Jahr 2009 maßgeblich prägte. Ein wenig irritiert über die Divergenz von Etikett und Inhalt, nimmt man den reich bebilderten und dem Anlass entsprechend ausgestatteten Band mit gespannter Erwartung für den zweiten, tiefer schürfenden Blick zur Hand.

Die Gliederung folgt grundlegend keiner chronologischen, sondern einer strukturellen Logik. Die einzelnen Beiträge ausgewiesener Fachleute widmen sich prägenden Aspekten und Themen der Bertelsmann-Nachkriegshistorie. Den Rahmen bildet der Beitrag Hartmut Berghoffs, der einleitend Grundzüge der Geschichte des Hauses herausarbeitet. Danach folgen Darstellungen zu einzelnen Geschäftsbereichen des Unternehmens: den Buchverlagen (Stephan Füssel), den Leseringen resp. Buchclubs (Siegfried Lokatis), dem Musikgeschäft (Peter Wicke), dem Fernsehgeschäft (Dietrich Leder) und den technischen Bereichen, resp. der 1999 gegründeten Dienstleistungssparte Arvato (Norbert Gilseon). Ferner finden sich zwei Beiträge, die sich mit kulturellen Phänomenen beschäftigen: Erik Linder widmet sich der "unternehmerischen Freundschaft" zwischen Reinhard Mohn und Gert Bucerius, während Clemens Wischermann eine Analyse der Bertelsmann-Unternehmenskultur vorlegt. Den Band beschließt ein Anhang, in dem wesentliche Kennzahlen der Unternehmensentwicklung (leider auch nicht für die kompletten 175 Jahre) sowie die Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder seit der AG-Gründung 1973 gelistet sind. Ihm beigegeben ist zudem eine DVD mit einem multimedial aufbereiteten Zeitstrahl.

Die fünf Beiträge zu den Bertelsmann-Geschäftsbereichen dokumentieren die jeweilige Geschäftsentwicklung, wobei sie sämtlich von übergreifenden Fragestellungen sowie strukturierenden oder methodischen Überlegungen freigehalten sind. Ferner ist ihnen allen gemein, dass sie den ersten Schritten von Bertelsmann im jeweiligen Feld großen Raum einräumen, während die weiteren Entwicklungen meist mit großzügigeren Strichen dargestellt werden, was bisweilen gegen Ende der Texte zu fast schon impressionistischen Eindrücken führt. An einigen Stellen dieser Beiträge sind jedoch Aspekte und Zusammenhänge skizziert, die über das unmittelbare Geschehen bei Bertelsmann hinausreichen und dadurch nicht nur das Leseverständnis erhöhen, sondern kleine Schlaglichter auf die doch speziellen wirtschaftlichen Verhältnisse im Mediensektor werfen.

Erik Lindners als Portrait der "unternehmerischen Freundschaft" zwischen Mohn und Bucerius angekündigter Beitrag entpuppt sich bei intensiverer Lektüre hingegen als Lehrstück zur bundesdeutschen Medien- und Medienmachtgeschichte. Man erfährt eine Menge Erhellendes über die Geschehnisse um Gruner + Jahr, die ZEIT, den "Stern" und wechselseitige Unternehmensbeteiligungen, die allesamt mit den beiden Akteuren verbunden sind. Dies alles liest sich spannend und aufschlussreich. Doch bleiben in der Darstellung die Wesenszüge von Reinhard Mohn und Gerd Bucerius sowie Charakter und Entwicklung ihrer "unternehmerischen Freundschaft" merkwürdig unscharf und blass.

Clemens Wischermanns Beitrag zur Unternehmenskultur nimmt die wesentlichen überlieferten Dokumente als Basis für seine Untersuchung. Unternehmenskultur definiert er dabei eingangs als "die alltägliche Handlungswelt eines Unternehmens" (S. 242). Allerdings gewinnt man bei der Lektüre seines Beitrags den Eindruck, Unternehmenskultur sei vor allem – wenn nicht ausschließlich – durch die Unternehmensführung geprägt. Doch wird die "alltägliche Handlungswelt" von Unternehmen wesentlich von den Mitarbeitern aller Arbeits- und Führungsebenen gestaltet. Die spezifische Art und Weise der Zusammenarbeit und des Zusammenlebens innerhalb eines Betriebs formt seine Kultur in erheblichem Maß. Dies geschieht in Aushandlungs- und Lernprozessen zwischen den Akteuren. Wesentlich hierfür sind "Kulturträger", die ihren Kollegen und Mitarbeitern sowie nachfolgenden Arbeitsgenerationen die Wesenszüge der spezifischen Unternehmens- oder Betriebskultur weitergeben und dadurch auch für deren Stabilisierung und Dauerhaftigkeit sorgen. Insbesondere deswegen wäre es sehr aufschlussreich gewesen, einen Blick zurück zu werfen und zu fragen, welche der Wesensmerkmale der Unternehmenskultur, die die Bertelsmann-Führung in den 1960er-Jahren entwarf, in über Jahrzehnte gewachsenen "alltäglichen Handlungswelten" wurzelten oder quasi neu – möglicherweise dem Zeitgeist oder persönlichen Vorstellungen Reinhard Mohns geschuldet – von oben verordnet wurden. Weiterhin hätte man sich im Zusammenhang mit der geplanten "Überstülpung" der Gütersloher Bertelsmann-Kultur auf die akquirierten deutschen und internationalen Unternehmen ab den 1970er-Jahren einige Gedanken zu dem dahinter hervorscheinenden "monolithischen" Kulturverständnis im Hause Bertelsmann gewünscht.

Hartmut Berghoffs am Beginn des Bandes positionierter Gesamtüberblick zur Unternehmensgeschichte sticht neben den bisher besprochenen Beiträgen in mehrerlei Hinsicht heraus. Er behandelt als einziger die Historie des Hauses seit 1835, auch wenn die ersten 110 Jahre bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges nach nur knapp einem Fünftel des Beitrags abgehandelt sind. Zudem formuliert Berghoff als einziger Autor für seinen Beitrag eine Fragestellung und stellt einleitend sieben dem Unternehmens Bertelsmann eigene Grundprinzipien vor, die als Analyseebenen seine Darstellung leiten. Bei diesen Grundprinzipien (Economies of Scale, Economies of Scope, Dezentraliät, Paternalistische Unternehmenskultur, Wachstum aus eigener Kraft, Führung vom Markt her, Eigenverantwortung der Manager) ist allerdings zu fragen, ob sie tatsächlich allein "Bertelsmann-typisch" oder nicht etwa für eine Vielzahl von Unternehmen, oder zumindest für deren familiengeführte Subspezies, charakteristisch sind. Doch mithilfe dieser leitenden Grundprinzipen gelingt es Berghoff, die durch manche Umwege und Volten gekennzeichnete Geschichte des Hauses Bertelsmann von einem kleinen Gütersloher Verlagshaus zu einem transnational agierenden Medienunternehmen mit einer Vielzahl von Standbeinen und Aktivitäten zu strukturieren und plausibel zu erzählen.

So ist denn der Gesamtband ein eigenartiges Konstrukt. Als Festschrift zum 175jährigen Unternehmen angekündigt und angepriesen, entpuppt er sich als durchaus nicht unkritische Würdigung der Ära Reinhard Mohns. Die Beiträge dokumentieren unterschiedliche Aspekte und Teilbereiche des Unternehmens in dieser Ära, auch wenn sie dabei merkwürdig unverbunden nebeneinander stehen und kaum Bezug aufeinander nehmen. Dies gilt insbesondere auch für den multimedialen Zeitstrahl auf der beigefügten DVD. Hartmut Berghoffs Gesamtschau ist offenkundig den Standards und Kriterien der Wissenschaftlichkeit verpflichtet, was ihn aus dem Band heraushebt. So schiebt man den Band in seinen Schuber und stellt eine solide Basisdokumentation für ein bedeutendes Medienunternehmen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ins Regal – aber eben nicht "175 Jahre Bertelsmann", wie das Etikett weiterhin wohlgemut von dort verkündet.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension